Der unversorgte Zustand (erste Reihe) ist als Referenz dargestellt. Die zweite Reihe zeigt das mithilfe der PureSound-Signalverarbeitung erzielte Ergebnis. Man erkennt, dass die Lücke für alle Signalunterbrechungen (Gap = 3 ms, 9 ms und 24 ms) gut erhalten ist. Die dritte Reihe stellt das Ausgangssignal des Hörsystems von Hersteller 1 dar. Hier ist erkennbar, dass die Signalunterbrechung, die bei 100 ms stattfinden sollte, durch das Hörsystem zeitlich verzögert abgebildet wird. Zusätzlich ist die Lücke teilweise gefüllt, das Ausgangssignal weist also eine unterschiedliche Form zum Originalsignal auf. Ähnliche Beobachtungen können in der vierten Reihe für das Ausgangssignal des Hörsystems von Hersteller 2 gemacht werden. Diese Daten zeigen deutlich, dass Verzögerungen in der Hörsystem-Verarbeitung die zeitlichen Charakteristiken des Eingangsschalls bei offenen Versorgungen beeinflussen. Der Einfluss der Verzögerung wird besonders deutlich bei kurzen Signalunterbrechungen, wobei die Verarbeitungsverzögerung die zeitlichen Lücken „auffüllt“. Die Form der Lücke wird mit zunehmender Dauer der Signalunterbrechung von Hersteller 1 und 2 stärker verzerrt dargestellt.
Die Bedeutung dieser Messungen besteht darin, dass Hörsystem-Verzögerungen auch die zeitlichen Eigenschaften der Eingangssignale beeinflussen, wobei eine kürzere Durchlaufverzögerung diese besser bewahrt. Der Vorteil einer ultrakurzen Verzögerung ist eine natürlichere Wahrnehmung der Eingangssignale durch den Erhalt der zeitlichen Nuancen und die Minimierung der spektralen Verzerrung des Kammfiltereffekts (Balling et al., 2020). Zusätzlich werden mäßig laute Impulsgeräusche natürlicher und tolerierbarer dargestellt. Auch die Wahrnehmung bestimmter Sprachlaute (wie z. B. Plosiv- und Frikativkonsonanten), die von der Bewahrung der zeitlichen Nuancen abhängig sind, könnte ebenso verbessert werden.
ZeroDelay-Technologie:
Widex hat schon immer Wert darauf gelegt, die Natürlichkeit der Eingangssignale zu erhalten. Dies erfordert nicht nur eine ausreichende Verstärkung über einen ausgeweiteten Frequenzbereich hinweg, sondern auch den Erhalt möglichst vieler temporaler Charakteristiken aus dem Originalsignal. Ein Beweis dafür ist die Implementierung der langsam wirkenden Kompression des ersten digitalen Im-Ohr-Hörgeräts (IdO), des SENSO (Kuk, 1998). Die Einführung der Variable Speed Compression in Widex UNIQUE Hörsystemen ist ein weiterer Beleg für unser Bestreben, die natürlichen zeitlichen Eigenschaften von Klängen zu bewahren (Kuk und Hau, 2017). Sowohl die langsam wirkende Kompression als auch die Variable Speed Compression mit zwei parallelen Kompressionspfaden wurden mit dem Ziel entwickelt, die Einhüllende des Eingangssignals zu erhalten und gleichzeitig mögliche Artefakte zu minimieren (Kuk et al., 2018).
Die ZeroDelay-Technologie in Widex MOMENT folgt ebenfalls der Design-Philosophie zur Erhaltung der Natürlichkeit des Eingangssignals. Anders als auf die Kompressionsgeschwindigkeit abzuzielen, konzentriert sich die ZeroDelay-Technologie auf die Verzögerung der Signalverarbeitung, um Kammfilter- und temporale Verschmiereffekte zu minimieren.
Um zu verstehen, wie die ZeroDelay-Technologie in MOMENT funktioniert, ist es wichtig zu verinnerlichen, in welchen Bereichen der Signalverarbeitung Verzögerungen auftreten. Bei den meisten digitalen Hörgeräten beginnt der Signalverarbeitungspfad damit, dass das Eingangssignal eine Filterbank durchläuft, die den Eingang in verschiedene Kanäle für die nachfolgende Verarbeitung aufteilt. Features, die eine Mehrkanal-Verarbeitung voraussetzen, wie die Kompression, Richtmikrofone, Störgeräuschunterdrückung, Rückkopplungsauslöschung und Frequenzabsenkung, sind normalerweise in das Design der Filterbank integriert, um als eine Einheit zu agieren. Daher tragen das Design und die Effizienz der integrierten Signalverarbeitung in der Mehrkanal-Filterbank am meisten zur Verarbeitungsverzögerung des Hörgeräts bei. Im Fall von Widex EVOKE betrug diese Verzögerung im Durchschnitt etwa 2,5 ms.
Um eine noch kürzere Durchlaufverzögerung zu erreichen, ist ein völlig neues Paradigma der Signalverarbeitung erforderlich. Denn die Verzögerung in einer Filterbank kann nicht willkürlich verringert werden, ohne die Frequenzauflösung – und damit die Anzahl der Kanäle – in der Filterbank zu reduzieren. Die Herausforderung des neuen PureSound-Signalverarbeitungsalgorithmus bestand darin, die Anzahl der Kanäle beizubehalten und gleichzeitig die Verzögerung auf unter 0,5 ms zu reduzieren. Die PureSound-Signalverarbeitung arbeitet parallel zum aktuellen Pfad der Filterbank (bekannt als Universal- oder Master-Programm). Im MOMENT-Hörsystem haben die Träger die Möglichkeit, zwischen dem Universal-Programm mit allen klassischen Widex-Features und einer PureSound-Signalverarbeitung zu wechseln. Die PureSound-Verarbeitung ist an eine neue Reihe eng in die Filterbank integrierter Features angepasst. Über die Duale-Mikrofon-Eingangssteuerung (Dual-Mic Input Control) kann der Benutzer nahtlos zwischen den beiden Signalpfaden wechseln.
Was ist die Duale-Mikrofon-Eingangssteuerung?
Ein Leitgedanke bei der Feature-Spezifikation ist es, die Erwartungen der Anwender für das jeweilige Hörprogramm zu verstehen. Der Vorteil der ultrakurzen Verarbeitungsgeschwindigkeit macht sich vor allem bei Hörsystem-Trägern bemerkbar, die eine große Belüftungsbohrung oder offene Anpassung an das Ohr verwenden. Dies liegt daran, dass über eine Belüftungsbohrung ein Großteil des Direktschalls in den Gehörgang gelangt und sich dort mit dem verzögerten Schall des Hörsystems vermischt. Dies führt dazu, dass in diesen akustischen Ankopplungen der Kammfiltereffekt am stärksten ist und somit am deutlichsten wahrgenommen wird. Die Zielgruppe für die ZeroDelay-Technologie sind demnach Hörsystem-Träger, die für eine offene Anpassung infrage kommen. Dementsprechend sind Menschen mit einer leichten bis mittleren Hörminderung und Personen, die zum ersten Mal ein Hörsystem tragen, die idealen Kandidaten für die Verwendung von PureSound.
Wenn die PureSound-Signalverarbeitung in der offenen Anpassung angewandt wird, ist es sinnvoll zu hinterfragen, ob ein Richtmikrofon notwendig ist. Es ist allgemein anerkannt, dass ein Richtmikrofon, unter Verwendung einer geschlossenen Anpassung, den SNR für Sprache um bis zu 6 dB verbessert (z. B. Bentler, 2005). Tatsächlich berichteten Kuk et al. (2019a), dass das Richtmikrofon am Evoke-Hörsystem den SNR um 6,5 dB verbesserte. Auf der anderen Seite nimmt mit zunehmendem Durchmesser der Belüftungsbohrung (beziehungsweise Leckage) der Otoplastik/des Domes auch die Menge des Direktschalls zu, die über die Öffnung in den Gehörgang gelangt (Kuk & Keenan, 2006). Diese Leckage „verdünnt“ die relative Menge des durch das Hörsystem verarbeiteten Schalls im Gehörgang und reduziert die Wirksamkeit bestimmter Signalverarbeitungsalgorithmen (Bentler et al., 2006). Kuk et al. (2004) zeigten, dass das Ausmaß des im Labor gemessenen direktionalen Nutzens proportional mit dem Grad des Hörverlusts variiert. Dies ist darauf zurückzuführen, dass ein größerer Hörverlust einen kleineren Vent-Durchmesser erfordert und dass sich der direktionale Nutzen wahrscheinlich umgekehrt proportional zum Vent-Durchmesser verändert. Daher würde man den geringsten direktionalen Nutzen bei einer offenen Anpassung am Ohr erwarten. Tatsächlich haben viele Studien (z. B. Klemp & Dhar, 2008; Magnussen et al., 2013; Valente & Mispagel, 2008) gezeigt, dass der Nutzen eines Richtmikrofons bei einer offenen Anpassung zwischen 1 und 2 dB SNR liegt.
Darüber hinaus gibt es Gründe für die Vermutung, dass der berichtete Richtungsnutzen von 1–2 dB bei offenen Anpassungen ein Resultat der gewählten Testbedingung ist und möglicherweise in realen Hörumgebungen nicht festgestellt werden kann. In allen angegebenen Studien wurde der direktionale Nutzen als der Unterschied im SNR gemessen, der erforderlich ist, um eine Sprachverständlichkeitsschwelle (SVS) von 50 % zu erreichen. Häufig wird die SVS (50 %) unter Verwendung dieser Messverfahren bei SNRs von 0 dB oder niedriger erreicht. Das bedeutet, dass der besagte Nutzen eines Richtmikrofons nur dann eintritt, wenn der SNR in einer realen Hörsituation bei 0 dB oder darunter liegt. Neuere Untersuchungen zum Thema realistische SNRs von Smeds et al. (2015) und Wu et al. (2018) legen jedoch nahe, dass die SNRs, die typischerweise von Menschen mit leichtem bis mittlerem Hörverlust angetroffen werden, zwischen 5 dB und 15 dB SNR liegen. Daher kann es sein, dass bei einer offenen Anpassung die potenziellen Vorteile eines Richtmikrofons in typischen realen Hörsituationen nicht realisiert werden (Cord et al., 2004; Palmer et al. 2006). Zusammengefasst deuten diese Forschungsergebnisse darauf hin, dass ein Richtmikrofon möglicherweise kein entscheidendes Feature für die PureSound-Signalverarbeitung darstellt.
Widex hat die Duale-Mikrofon-Eingangssteuerung im MOMENT-Hörsystem entwickelt, um die Verwendung der PureSound-Signalverarbeitung unter typischen Hörbedingungen zu ermöglichen und gleichzeitig die Verwendung eines Richtmikrofons in sehr schwierigen Hörsituationen sicherzustellen. Wenn der Hörsystem-Träger PureSound für den alltäglichen Gebrauch (unter realistischen SNRs) verwendet, schaltet die Duale-Mikrofon-Eingangssteuerung automatisch auf eine omnidirektionale Mikrofoncharakteristik, wobei das Eingangssignal den Verarbeitungspfad mit der geringeren Verarbeitungsverzögerung durchläuft. In einer herausfordernden Hörsituation kann der Anwender auf das Universal-Programm umschalten, das die Duale-Mikrofon-Eingangssteuerung anweist, auf das adaptive Richtmikrofon des HD-Locators (oder auf den jeweils hinterlegten Mikrofonmodus) umzuschalten. Auf diese Weise kann der Hörgeräte-Träger von der Verwendung des für ihn geeigneten Mikrofonmodus profitieren.
In der hier vorgestellten Studie wurde untersucht, ob die PureSound-Verarbeitung des MOMENT-Hörsystems, bei offener Versorgung unter realistischen SNRs, eine ähnliche Sprache-im-Störgeräusch-Leistung erbringt wie andere digitale High-End-Hörsysteme mit aktiviertem adaptivem Richtmikrofon.
Methoden
Teilnehmer:
Insgesamt nahmen 21 hörgeschädigte Probanden an der Studie teil. Die Altersspanne der Teilnehmer reichte von 58 bis 82 Jahren mit einem Durchschnittsalter von 71,8 Jahren. Insgesamt 13 Probanden waren zum Zeitpunkt der Studie bereits Hörsystem-Träger mit einer Erfahrung von 1–15 Jahren. Zwei der Probanden hatten bereits an früheren Hörsystem-Studien teilgenommen, waren jedoch zum Zeitpunkt dieser Studie noch keine Hörsystem-Träger. Sechs weitere Probanden hatten noch nie Hörsysteme getragen. Alle Probanden hatten einen binaural symmetrischen (innerhalb von 10 dB) leichten bis mittelgradigen sensorineuralen Hörverlust (siehe Abbildung 2). Zusätzlich bestanden alle Testpersonen ein kognitives Screening, das anhand des Montreal Cognitive Assessment Tools (MoCA; Durchschnittspunktzahl = 26,4) durchgeführt wurde.